Leseprobe „Feenmondkind“

Kapitel 1
Die Flucht

Bum, bum, bum, immer schneller und heftiger schlug ihr Herz, als wollte es ihren Brustkorb sprengen. Bum, bum, bum, wie Hammerschläge dröhnte es in ihren Ohren. Ihr Herz schmerzte, es brannte wie Feuer in ihrer Brust.

Seit Stunden irrte Mayla ziellos durch den Wald. Ihr Atem ging rasend schnell. Keuchend hielt sie einen Moment inne. Mit einer Hand stützte sie sich an einem Baum ab, die andere legte sie schützend auf ihren gewölbten Bauch. Sie zuckte zusammen. Wieder hatte ein greller Blitz den Himmel taghell erleuchtet. Es folgten mehrere Donnerschläge und ein endloses Grollen.
Maylas Tränen vermischten sich mit dem Regen, der ihr unerbittlich ins Gesicht peitschte. Der Sturm zerrte und riss an ihrer durchnässten und schmutzigen Kleidung. Erneut klatschte er ihr die nassen, kastanienroten Locken ins Gesicht. Müde schob Mayla sie beiseite. Ihre Hand, an der Erdreich und Blätter klebten, zitterte. Sie war über Äste und Wurzeln gestolpert, war mehrfach gestützt. An ihren Unterarmen, Wangen und auf der Stirn gab es zahlreiche blutige Schrammen, aber davon spürte Mayla nichts.
Das Heulen des Windes vereinte sich mit dem Tosen der Brandung, die unermüdlich gegen die Klippen schlug. Der Sturm tobte und wütete durch den Wald, hatte ganze Bäume samt ihren Wurzeln aus dem Erdreich gerissen. Sich bei diesem Wetter im Wald aufzuhalten war Wahnsinn. Doch wo sollte sie hin? Zurück zu ihrer Tante Berta in die Gruselburg? Auf gar keinen Fall.
Sie spürte, wie ihre Kräfte nachließen. Weiter, immer weiterlaufen, trieb sie sich selbst in Gedanken an. Die Geräusche der Brandung waren lauter geworden. Sie musste achtgeben, dass sie nicht zu nahe an die Klippen geriet. Ihre Augen hatte sie zu kleinen Schlitzen zusammengekniffen. In welche Richtung sollte sie weiterlaufen? Unruhig schweifte ihr Blick umher. Bäume und Sträucher, aber weit und breit war kein Weg zu sehen, der ihr ein bisschen Orientierung gegeben und ihr das Laufen erleichtert hätte. Egal, nur fort von den Klippen, tiefer in den Wald hinein. Sie musste einen Unterschlupf finden, und zwar bald, denn die Dämmerung hatte bereits eingesetzt.

Mayla stieß sich vom Baum ab. Weit nach vorne gebeugt kämpfte sie sich durch den Sturm. Lange würde sie das nicht mehr durchhalten. Sie dachte an das Kind unter ihrem Herzen, das bald zur Welt kommen würde. Dieser Gedanke gab ihr neue Kraft, trieb sie voran. Erleichtert atmete sie auf, als sie nach einiger Zeit endlich einen Waldweg erreichte. Ihr Herz machte vor Freude einen kleinen Sprung als sie dort ein Holzschild, ein Wegweiser erblickte. Sie musste ganz nahe an das Schild herantreten, um die verwitterte Schrift lesen zu können. Entsetzt riss sie die Augen auf, sie wollte nicht glauben was sie da las. Dort stand der Name der Burg ihrer Tante. Sie war die ganze Zeit im Kreis gelaufen.

Es war, als würde ihr jemand den Boden unter den Füßen wegreißen. Mayla begann zu taumeln, ihr ganzer Körper zitterte. Sie lehnte sich mit dem Rücken an einen Baum. Resigniert und erschöpft sank sie zu Boden.
Der Sturm riss am Blätterdach des Baumes über ihr. Er schwenkte die Äste wild hin und her. Das Heulen des Windes übertönte das laute Weinen von Mayla. Ein heftiger Schmerz durchzuckte ihren Körper. Alles verschwamm vor ihren Augen. Sollte ihr Leben und das ihres ungeborenen Kindes hier enden?
Mayla schloss die Augen. Eine unendliche Müdigkeit überfiel sie. Einschlafen, dachte sie, einfach einschlafen. Alles um sie herum schien in weite Ferne zu rücken. Sie spürte den Regen kaum noch. Die Geräusche des Unwetters, das Rauschen des Meeres, wurden leiser. Es war, als würde sie langsam aus dieser Welt schweben.
Plötzlich war alles wieder da, laut und heftig. Es dauerte eine Weile, bis Mayla wahrnahm, dass jemand an ihrer Schulter rüttelte. Mit Mühe gelang es ihr, die Augenlider ein wenig anzuheben. Hatte sie Halluzinationen oder hockte da eine Frau vor ihr? Sie war genauso durchnässt wie sie.
»Du musst aufstehen, du kannst hier nicht bleiben!«
Mayla schloss erneut die Augen.
„Nicht wieder einschlafen!“, rief die Frau gegen das Getöse des Sturms. Abermals rüttelte sie Mayla an der Schulter. Als das nicht half, zerrte sie das Mädchen mit aller Kraft hoch, nahm ihren Korb und sagte: „Komm, es ist nicht mehr weit bis zu meiner Hütte.“
Die Worte der Frau klangen in Mayla nach. Nicht mehr weit, Hütte, das hörte sich gut an. Noch einmal mobilisierte sie alle ihre Kräfte. Die Frau legte ihren Arm um Mayla und stütze sie. Bald hatten sie die Hütte erreicht und traten ein. Mayla konnte sich kaum mehr auf den Beinen halten.

Die Frau drückte sie auf einen Stuhl und zündete eine Lampe an. Ein warmes Licht breitete sich im Raum aus. »Du musst aus den nassen Sachen raus«, sagte die Frau. Aus einer alten Truhe nahm sie ein paar Kleidungsstücke. »Sie sind etwas groß, aber trocken.« Rasch half sie Mayla beim Wechseln der Kleidung. Danach führte sie sie in eine winzige Kammer, in der nur ein Bett stand. »Leg dich hin, Mayla, und ruh dich aus.«

Maylas Kopf hatte kaum das Kissen berührt, da fiel sie in einen tiefen Schlaf. Es blieb ihr noch nicht einmal Zeit darüber nachzudenken, woher die Frau ihren Namen kannte.

Der Sturm, der an der Hütte rüttelte, weckte sie nach einiger Zeit. Sie war immer noch unendlich müde. Zu müde, um auch nur die Augen zu öffnen. Aus dem Nebenraum hörte sie Stimmen. Eine Frauenstimme sagte: »Gibt es keine andere Lösung? Es fühlt sich für mich nicht richtig an.«
Eine männliche Stimme antwortete: »Es muss sein und das weißt du!«

Die Erschöpfung ließ Mayla erneut in einen tiefen Schlaf sinken. Als sie das nächste Mal erwachte, öffnete sie blinzend die Augen. Ihr Blick war nach oben gerichtet. Sie schaute auf eine aus groben, dunklen Brettern gezimmerte Decke. Wo war sie? Mühsam setzte sie sich auf. Gerade mal ein Bett passte in diesen Raum. Durch ein kleines Fenster drang spärlich das letzte Licht des Tages. Wie lange mochte sie geschlafen haben? Sie hatte kein Zeitgefühl mehr.
Sie schaute an sich herunter. Was hatte sie für komische Kleidung an? Das waren nicht ihre Sachen. Eine heftige Windböe rüttelte am Fenster. Der Sturm, der draußen immer noch tobte, brachte die Erinnerung zurück. Sie war durch den Wald geirrt und eine Frau hatte sie in diese Hütte gebracht.

Mit einem Knarren öffnete sich die Tür. Die Frau trat ein und setzte sich zu ihr ans Bett. Sie war wie eine Bäuerin gekleidet, mit langem Rock, Schürze, Strickjacke und klobigen Schuhen. Ihr dunkles Haar war zu einem dicken Zopf geflochten. Ihre Augen strahlten etwas Gütiges, Mütterliches aus. Ihre Wangen waren leicht gerötet. Sie lächelte Mayla an und reichte ihr eine Tasse. »Der Tee wird dir guttun.«
Mayla bedankte sich und begann in kleinen Schlucken zu trinken.
»Ich heiße Maria«, sagte die Frau.
»Wo bin ich hier?«
»In dieser Hütte übernachte ich manchmal, wenn ich im Wald Beeren, Pilze und Kräuter sammle. Das Unwetter hat mich gestern ebenfalls überrascht.«
»War heute Nacht noch jemand hier?«
»Nein«, antworte Maria, »wie kommst du darauf?«
»Ich habe in der Nacht Stimmen gehört.« Mayla deutete mit dem Kopf auf den Nebenraum.
»Das hast du geträumt.«
Bevor Mayla eine weitere Frage stellen konnte, spürte sie einen heftigen Schmerz in ihrem Bauch, der ihr den Atem raubte. Mit vor Schreck geweiteten Augen schaute sie die Frau an.
Maria nahm ihr die leere Tasse aus der Hand. »Es ist so weit«, sagte sie.
»Was ist so weit?«
»Dein Kind kommt zur Welt.«
Schweißperlen bildeten sich auf Maylas Stirn. Ihr Herz begann zu rasen. Die Worte sprudelten rasend schnell aus ihrem Mund. »Nein, das kann nicht sein. Erst in einer Woche ist der Termin.«
»Die Aufregung und die Anstrengung werden die Geburt vorzeitig ausgelöst haben. Außerdem kümmern sich die Kinder nicht um Termine. Sie kommen, wann sie wollen. Und dein Kind möchte jetzt das Licht der Welt erblicken.« Sie schaute zum Fenster. »Vielleicht, weil gerade ein ganz besonderer Vollmond ist?«
»Ich kann unmöglich hier in dieser Hütte mein Kind zur Welt bringen!«, rief Mayla.
Maria legte ihr die Hand auf die Schulter. »Mach dir keine Sorgen. Ich habe vielen Kindern auf die Welt geholfen.«
»Sie müssen meine Tante benachrichtigen, Frau von Krawitzki. Ich muss zurück auf die Burg.« Doch dann fiel ihr ein, warum sie von dort geflohen war. Wie ein Film lief alles vor Maylas innerem Auge ab. Sie hatte ein Telefonat zwischen ihrer Tante Berta und ihrem Vater belauscht. Sie erinnerte sich an die Worte ihrer Tante, die sagte: »Natürlich kannst du dich auf mich verlassen, Aron. Wir werden Mayla sagen, dass das Kind bei der Geburt gestorben ist. Ich habe eine Familie gefunden, die es aufnehmen wird. Du kennst meine Einstellung. Eine von Krawitzki und ein uneheliches Kind, das geht gar nicht.«

Wie eine Aussätzige hatte ihre Tante Berta sie behandelt. Der einzige Trost war ihr Pferd Merlin, das sie nach Schottland hatte mitnehmen dürfen. Als sie erfahren hatte, was ihre Tante mit ihr vorhatte, war sie verzweifelt in den Stall gelaufen. Auf der Burg hatte sie keine Minute länger bleiben wollen. Sie hatte mit Merlin fliehen wollen. Es war ein Schock gewesen, als sie im Stall die leere Box vorgefunden hatte. Wo war Merlin? Was hatte ihre Tante mit ihm gemacht? Dann hatte sie die Stimme ihrer Tante gehört, die nach ihr gerufen hatte. Schnell war sie zur hinteren Stalltür gelaufen und in das nahegelegene, gigantische Waldgebiet geflüchtet. Dort war sie stundenlang umhergeirrt. Später war sie von dem Unwetter überrascht worden.

Maria erhob sich.
Mayla hielt sie am Arm fest. »Nein, bitte verständigen sie nicht meine Tante.«
»Das hatte ich nicht vor. Ich werde alles für die Geburt vorbereiten.« Kurz strich sie Mayla übers Haar.
»Habe keine Angst, vertrau mir.« Schnell wandte sie sich ab und ging in den Nebenraum. Mit der Schürze wischte sie sich eine Träne aus dem Augenwinkel. Nichts würde gut. Sie hatte Mayla belogen. Es brach ihr fast das Herz als sie daran dachte, was sie tun musste.

Mayla lag in der kleinen Kammer und ließ ihre Gedanken schweifen. Noch vor Monaten war ihr Leben glücklich und unbeschwert gewesen. Sie erinnerte sich an den Tag, als er begann, ihr Alptraum.